Geist aus dem Brunnen

DARMSTADT. Als der Geist der schönen O-Kiku aus dem Brunnen steigt, reißt Erzähler Andreas Konrad entsetzt die Augen auf. Das Publikum hält den Atem an. Es ist eine packende und zugleich feinsinnige Premiere, mit der das „Theater Lakritz“ am Freitagabend ins Reich der Fantasie entführt. Angetan mit blauem Kimono, lässt sich Konrad auf der kargen Bühne im Darmstädter Mollerhaus nieder, um die Kunst des Erzählens zu zelebrieren. Blütenzweige in zierlichen Porzellanvasen verbreiten japanisches Flair.

„Der Fluch oder Flieh bei sieben und alles ist bestens“ heißt die Gespenstergeschichte um den Verrat an der Dienerin O-Kiku. Der Stoff geht zurück auf eine japanische Gespenstergeschichte, die über Jahrhunderte in Varianten weitererzählt wurde. Konrad versetzt die Zuhörer in eine Zeit, als „man noch Schwerter trug und das Haar hoch gesteckt war“. Und während er in immer gleicher Position verharrt, machen Mimik, Gestik und Modulation das dramatische Geschehen sichtbar.

Mäuschenstill lauscht man der Mär von O-Kiku, die sich der Begierde ihres Herrn nicht unterwirft und einen grausamen Tod erleiden muss. Zehn kostbare Teller sind O-Kiku in Obhut gegeben, doch heimtückisch wird einer entwendet. Verschmähte Liebe verwandelt sich in Hass: O-Kiku wird zur Strafe in einen tiefen Brunnen geworfen. Mit einfachen Klangutensilien macht Dietmar Süß die Illusion perfekt und malt den Sturz in zitternden Tönen nach.

„Nachts erscheint ihr Geist beim Brunnen. Wer sie belauscht, ist dem Wahnsinn anheim gegeben, sobald sie auf neun zählt“, führt Konrad aus. Mit Befehlston, Säuseln oder Gemurmel zeichnet er das Gespräch der Freunde nach, die das Geheimnis entzaubern wollen. Musiker Süß konturiert die Charaktere durch rhythmisch dumpfe Flötentöne: hier der Wagemutige, dort der Hinterlistige und da der Einfältige.

Von banger Neugier getrieben, begeben sie sich an den verwunschenen Ort. Steine rumpeln und poltern. Erzähler Konrad rollt furchtsam die Augen und hält schutzsuchend den Kragen des Kimonos zusammen. Vergessen ist die Theaterkulisse, die Zuschauer folgen gebannt ins nächtliche Land. Gleich gurgelndem Wasser vibriert die Feder, das Donnerblech bebt, als O-Kikus Geist aufsteigt. Als sie aber bis sieben gezählt hat, hasten die Spitzbuben rechtzeitig davon. Erheitert atmet das Publikum auf.

Nach bestandener Geisterstunde strömen Menschen von nah und fern herbei, den Geist der schönen O-Kiku zu sehen. Der Stille beraubt, verliert der Ort seinen Zauber. Die Zudringlichkeit der Welt geht auch an der Seele O-Kikus nicht spurlos vorbei.

Das Publikum dankt mit herzlichem Applaus für die anschaulich gemachten Worte, der Erzähler verbeugt sich gemeinsam mit Regisseur Konrad Büttner. Allein die Gäste zögern, aufzubrechen – schade, dass kein zweites Märchen folgt.

Artikel des Darmstädter Echos vom 21. Mai 2007 (Charlotte Martin)